Die Tage wurde ich von einem Kunden zu einem der etwas anderen Aufträge gerufen. Also es hatte auch mit Computern zu tun, wie es so häufig der Fall ist, wenn irgendwer um meine Hilfe brüllt. Aber doch war es etwas anders, als es vielleicht viele gewohnt sein werden, wenn Sie sich irgendwo um einen Rechner bei Kunden oder im Bekanntenkreis kümmern drfen. Ich sage dies, weil es sich bei dem Problemfall um eine Rechner für einen blinden Nutzer handelte, der mit Hilfe dieses Systems eine Unterstützung beim Bearbeiten der anfallenden Post und dem Erhalten von Informationen z.B. aus dem Videotext bekommt. Da viele mit dieser Art von Systemen mit hoher Wahrscheinlichkeit noch nicht in Berührung gekommen sind, ist die Beschreibung, wie ein solches System typischerweise aussieht, wahrscheinlich am besten für das Verständnis der nachfolgenden Erklärungen meines Hilfseinsatzes.
Wer sich ein solches System spontan als einen normalen Computer vorgestellt hat, ist der Realität schon einmal recht nah, wobei der Teufel hier im Detail liegt. Jedoch ist keines dieser Systeme wirklich vollständig identisch, selbst wenn die damit zu erledigenden Aufgaben die vollkommen gleichen sein sollten: Jedes dieser Systeme ist anders und führt damit sein eigenes Eigenleben. Da diese Systeme ferner als Unterstützung, d.h. Hilfsmittel, ausgelegt sind, muss man beim Arbeiten an diesen Systemen insbesondere bei der Konfiguration extrem vorsichtig sein, da viele Informationen, die man als Sehender über den Monitor erhält mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht oder nur unzureichend für den regulären Nutzer dieser Systeme greifbar sind. Vielmehr findet man es sogar oftmals, dass viele Nutzer dieser Systeme geradezu allergisch auf Änderungen – und seien sie noch so klein – reagieren.
Eine weitere Frage, die in diesem Zusammenhang für viele interessant sein wird, ist der erwähnte Punkt des blinden Nutzers und wie dieser denn ohne etwas zu sehen mit dem Computer arbeiten kann. Im Grunde gibt es hierfür zwei Grundlegende Varianten: Entweder macht man den Bildschirminhalt ertastbar, indem man etwa eine Braille-Zeile an den Rechner anschließt, oder aber, in dem man teile des Bildschirminhaltes über eine Sprachausgabe hörbar macht. Auf diese Weise erhält der Nutzer einen Teil der Informationen für ihn zugänglich, die ihm sonst verschlossen geblieben wären. Allerdings wirklich auch nur einen Teil, was wieder zurück auf die oben erwähnte Allergie gegenüber Änderungen führt: Wenn ich von einem System nur eingeschränkt eine Rückmeldung erhalte, möchte ich ungern, dass dieses System plötzlich anders reagiert, wie ich es erwarte bzw. gewohnt bin. Von daher ist dies also mehr als verständlich.
Unterbrechen wir an dieser Stelle die Geschichte einmal kurz für einen kleinen Selbstversuch: Starten Sie Ihren Rechner einmal neu und versuchen Sie ohne Nutzung des Monitors (testweise einmal ausschalten) im Browser eine Google-Suche nach einem beliebigen Begriff durchzuführen. Wer dieses Experimentproblemlos meistert, darf sich an dieser Stelle als Genie bezeichnen, denn selbst für Nutzer, die tagtäglich n ihrem Computer arbeiten wird selbst diese vergleichsweise einfache Aufgabe eine Herausforderung darstellen. Man ist es in seinem Umgang mit seinem Computer einfach gewohnt, über den Monitor als Wesentliche Informationsquelle zu nutzen. Wenn dieser wegfällt, fehlt einfach ein unersetzlicher Rückkanal, der auch durch die genannten Hilfssysteme nur begrenzt kompensiert werden kann. Und jetzt Hand auf’s Herz: Wenn Sie unter diesen Umständen um die Hilfe bei einem Computer-Problem fragen, wollen Sie nicht wirklich, dass ihr Computer danach anders auf Ihre Eingaben reagiert.
Wer jetzt glaubt, eine Braille-Zeile oder Sprachausgabe kann hier wirklich helfen, der irrt gewaltig. Prinzipiell sagt eine Sprachausgabe einem Nutzer zwar an, was so ungefähr auf dem Bildschirm zu erkennen wäre, wenn man ihn sehen könnte, rein praktisch hört diese Unterstützung aber bereits bei Programmen wie dem Internet Explorer 8 oder dem Firefox auf, da die Screenreader die in einem Browser dargestellten Informationen nur mit Hilfe des Browsers in sinnvolle Hinweise für den Nutzer
umwandeln können, wenn die Software, die etwas darstellen möchte auch mitspielt. Ein mehrspaltiges Listview, wie man es aus dem Explorer z.B. aus der Detailansicht eines Ordners kennt, mag für einen sehenden einfach greifbar sein. Für jemanden, der diese Strukturelle Zuordnung nicht kennt, ist eine solche Präsentation ohne Aufbereitung nutzlos. Versuchen Sie das einfach einmal ohne bildliche Darstellung zu beschreiben – gar nicht so einfach, was?
Nach dem dieser kurze Exkurs in die Welt der Hilfsmittelsysteme hoffentlich einen groben Blick für die Dinge verschafft hat, nun zurück zu meinem Fall. Auch hier noch ein wenig Beschreibung vorweg, da die beabsichtigte Aufgabe sonst nicht klar wird. Das System war ein frisch instlliertes Hilfssystem, bei dem nach der Auslieferung noch eine Reihe kleinerer Einstellungen vor Ort nötig wahren. Bei diesem System handelte es sich um ein menügesteuertes System, bei dem die Informationsvermittlung mit Hilfe einer Sprachausgabe realisiert wurde, die jedoch nur innerhalb dieses Menüsystems funktionierte. Wer bereits einmal eine Linux-Distribution im Textmodus installiert hat, dürfte eine relativ gute Sicht haben, wie dieses aussah. Das System selber war jedoch ein normales Windows und auch das Menü war kein Plaintext an sich, sondern einfache Listboxen, die als Menü fungierten. Die Bedienung erfolgte aber wirklich analog den Pendants im Linux-Installer.
Eine der mit diesem System zu erfüllenden Aufgaben war es nun, dass der Nutzer das System starten, und dann über einen angeschlossenen Receiver den Videotext auslesen können sollte. Abgesehen davon, dass für diese Aufgabe schon mal nicht jede beliebige TV-Karte funktioniert (im Wesentlichen nur Hauppauge-Karten erfüllen hier einige notwendige Voraussetzungen für den Videotext), weigern sich die Haupauge-Treiber regelmäßig, korrekt zu funktionieren.
So auch in unserem Fall. Beim ersten Start des wurde nun der in dem zum System mitgelieferten Hinweisen beschriebene Sendersuchlauf ausgeführt. Dieser funktionierte auch soweit, allerdings wurden die dabei gefundenen Sender nicht sauber in die Blindensoftware übernommen. Auch mehrfache Neustarts lösten das Problem vorerst nicht.
Hinzu kam an dieser Stelle, dass der Receiver nicht via Antennenkabel, sondern über den Composite-Eingang der TV-Karte angeschlossen war, was im Vorfeld mehrfach auch kommuniziert wurde, bei der Einrichtung seitens der Hilfsmittelfirma aber weder beachtet, noch auf Funktionalität geprüft wurde.
Und nun zum langwierigen Teil: Suchen wir einmal, warum es nicht geht… Also Schritt für Schritt die zahlreichen Programme durchgegangen, denn allein für das Fernsehen gab es zwei Programme von Hauppauge direkt dazu, die zwar beide die gleiche Senderliste nutzten, aber nur unter der Bedingung eines Sendersuchlaufs die Konfiguration aktualisierten. Also an der Stelle, wo es das Hilfsmittel-Programm benötigte; denn in der Registry standen sofort die neuen Daten.
Dass selbst Hauppauge-eigene Programme damit nicht zurecht kamen, was in den Konfigs hinterlegt wurde, konnte man gleich im nächsten Schritt sehr gut beobachten: Denn obwohl eine Senderliste vorhanden war – inklusive der Wünsche des Videotext-Programmes – wurde diese vom Videotext-Programm nicht gefunden. Mit dem Hinweis, man solle doch noch mal Sender suchen. Startete man nun jedoch das TV-Programm gleichzeitig mit dem Videotext, so ließ sich dieser ganz magisch zum Funktionieren überreden. Also scherzhaft probiert: Lief das TV-Programm konnte plötzlich auch die Sprachausgabe auf den Videotext zugreifen. Das Ausführen des Videotext-Programmes war nun nicht nötig.
Da es inzwischen spät war, kam es nun zu dem Punkt, an dem zu entscheiden war, wie man kurzfristig mit dieser Lösung umgeht, die auch ohne Sprachausgabe sinnvoll zu bedienen geht. Der erste Einfall war, das TV-Programm im Autostart mitzustarten, was jedoch unvorhersehbares Verhalten produzierte (Der Fokus für die Sprachausgabe war nicht garantiert). Die zweite Alternative war da schon etwas besser, benötigte aber die Interaktion des Nutzers, der einmalig 2 Tastenkombinationen zu drücken hatte.
Die zweite Lösung bestand im Wesentlichen aus dem Schritt, via einem globalen Hotkey das TV-Programm zu starten, kurz zu warten, bis es gestartet ist, und danach die Sprachausgabe wieder in den Vordergrund zu holen. Insgesamt also:
- Strg+Alt+T (Der globale Hotkey auf die Programmverknüpfung)
- 5 Sekunden warten, bis das Programm geladen ist
- Alt+Tab (Sprachausgabe in den Vordergrund)
Und hier war nun die Bruchstelle: Während dies für einen Nutzer, der zumindest ein wenig Erfahrung im Umgang mit einem Computer hat, auch ohne Rückmeldung durch den Bildschirm relativ einfach möglich ist, auszuführen, gab es in diesem Fall argen Protest „das musste ich vorher beim alten System so nicht machen!“, bzw. „das war früher nicht notwendig!“. Diese Sturheit, wenn auch bei sehenden Anwendern genauso anzutreffen, ist gerade in den Fällen, wo sie am wenigstens weiterführt, am stärksten ausgeprägt. Ich kann durchaus verstehen, dass jeder Handgriff mehr Komplexität bedeutet, aber eine vollständige Ignoranz der Technik gegenüber hilft keinem. Datenbrillen wie in StarTrek sind leider noch nicht erfunden; und die neuronalen Interfaces, die es gibt, sind auch noch nicht in der Qualität, dass man damit seine Börsenkurse abfragen könnte.
So weit war nun das System erst einmal eingerichtet und auch die Aufgabe, die es erfüllen sollte, war (abgesehen von besagtem kurzen Work-Around) möglich. Nun ging es also darum, mit der Hilfsmittelfirma noch einmal eine Lösung auch für diesen Workaround abzuklären, was sich angesichts dessen, dass die Reaktion auf Vorschläge zur Änderung ähnlich einladend wie bereits tags zuvor, auch trotz ausreichender Fachkompetenz auf der anderen Seite der Telefon-Leitung als relativ schwierig erwies. Hier wurde dann auch klar, dass die Software nicht darauf ausgelegt war, stabil auch mit dem Composite-Eingang zu funktionieren, sondern im Wesentlichen in genau den Testcases funktionierte, die unter Laborbedingungen vorgegeben wurden. Software zu schreiben, die auch nach Bedienung durch den User oder anderen Naturkatastrophen noch funktioniert, scheint eindeutig aus der Mode gekommen zu sein. Und as ist nun wirklich schade.
Geht man nun von diesem Fall ein wenig weiter, findet man wie bereits erwähnt aber auch Vorlese-Systeme, die nicht nur innerhalb ihrer eigenen Menü-Struktur für Sprachausgabe sorgen, sondern das gesamte System akustisch erfahrbar machen. Und wer jetzt fragt, woher diese Systeme wissen, was da auf dem Monitor steht: Nur durch die Mithilfe der jeweiligen Programme. Was solche Systeme tun, ist nichts weiter, als die Control- und Fenster-Struktur auf dem Monitor auszuwerten und anhand aktueller Kontext-Informationen (Fokus, Art des Steuerelementes, Verknüpfungen zu anderen, …) eine Aufbereitung der textuell vorliegenden Informationen zu liefern. Wer also bei Screenreader an OCR denkt, liegt in den allermeisten Fällen komplett falsch. Ohne die Mithilfe der Programme hört ein Blinder in solchen Fällen einfach mal nichts.
Während der Internet-Explorer unter Sehenden, insbesondere den technisch versierteren Nutzern, verpöhnt ist, ist er in solchen Fällen (zumindest in Version 6 und 7) die einzige Chance für einen Blinden etwas verständliches aus dem Internet geliefert zu bekommen. So schön Firefox, Opera, Safari und Chrome sein mögen, so wenig funktionieren Sie mit Screenreadern, geschweige denn Braille-Zeilen. Auch wenn Microsoft hier wieder aufholt: Ihr Internet Explorer funktioniert hier auch nicht… Von zahlreichen anderen Inkompatibilitäten mal ganz zu schweigen. Insgesamt ist daher die Arbeit mit Blindensystemen nichts für Jedermann, sondern erfordert eine gewisse Erfahrung, dass man nicht aus Versehen etwas verstellt oder ändert, was an anderen Stellen in genau der anderen Einstellung benötigt wird.
Ich würde ja sagen, dass Lynx am besten mit Screenreadern funktionieren würde. Erfahrungen habe ich damit nicht (kann ja noch sehen :P), aber damit könnte ich mir das eher vorstellen als mit überladenen Browsern wie der FF oder IE.
Kommentar by Jesse Klugmann — 08.08.2010 @ 13:21:43
Wie es bei Lynx bzgl. der Windows-Version aussieht, weiß ich auf Anhieb nicht, hab da aber durchaus meine Zweifel, weil die kein klassisches Konsolen-Fenster nutzen. Anders sieht es da aber bei der Linux-Version aus. Bei der weiß ich, dass die in der speziell für Blinde entwickelten Distri Adriane (basiert auf Knoppix, direkt von Klaus Knopper für seine Blinde Frau Adriane entwickelt) verwendet wird. Hab Adriane auch durchaus schon live mal gesehen und es kommt dem im Artikel beschriebenen System durchaus nahe, nur um einiges weiter vorangeschritten.
Kommentar by BenBE — 08.08.2010 @ 14:48:05
Bin einfach mal von einem Linux-System ausgegangen, da mir nicht bekannt war, dass es eine lauffähige Lynx Version für Windows gibt. Mir ist auch neu, dass es eine Distribution für Blinde gibt. 😀
Kommentar by Jesse Klugmann — 08.08.2010 @ 17:43:27